Franz Marschall, Kirsten Ohlendorf, Henning Ott & Stefan Schönthaler


Sportwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlandes
 



1. Saarbrücker Expertengespräch zum Beweglichkeitstraining/Stretching: Aktuelle Fragen und Forschungsperspektiven

Sportwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlandes

12. Dezember 1997

Vorbemerkung

Der hohen Bedeutung des Beweglichkeitstrainings in der Sportpraxis und der Krankengymnastik/ Physiotherapie steht ein erhebliches Defizit an empirisch gesicherten Befunden zu Parametern und Wirkungen von Dehnbelastungen gegenüber. Mit anderen Worten: Eine durchaus wirksame praktische Maßnahme wie das Dehnen läßt sich derzeit nur unzureichend erklären und verbleibt so auf der Ebene einer Meisterlehre. Dies ist sicherlich eine der Ursachen für die an vielen Stellen sehr ideologisch und manchmal auch unsachlich geführte Diskussion um "Sinn und Unsinn des Stretchings".

Das 1. Saarbrücker Expertengespräch zum Beweglichkeitstraining, zu dem sich am 12. Dezember 1997 Kollegen aus dem praktischen Anwendungsfeld und dem Bereich der Forschung trafen (s. Teilnehmerliste), stellt einen Versuch zur Strukturierung und Versachlichung der Diskussion dar. Die wesentlichen Aussagen und Ergebnisse der Diskussion sind in dem folgenden Beitrag zusammengefaßt.

1. Einführung

(Franz Marschall, Saarbrücken)

Die Praxis des Beweglichkeitstrainings ist gekennzeichnet durch ein fast unüberschaubares Spektrum an Handlungsempfehlungen, der Forschungsstand ist gekennzeichnet durch zahlreiche sich widersprechende Befunde zu Effekten unterschiedlicher Dehnverfahren bzw. Dehnmethoden. Für einen auch unter praktischen Gesichtspunkten so relevanten Anwendungsbereich im Sport und der Krankengymnastik/Physiotherapie ist dies besonders gravierend: Empfehlungen und Verfahren bei der Anwendung von Dehnübungen, die hinsichtlich der zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen nicht oder nur durch teilweise sich widersprechende Annahmen erklärt werden können, implizieren den Anschein von hoher Beliebigkeit und damit die Gefahr eines sehr problematischen, möglicherweise auch wirkungslosen "Herumprobierens" an Sportlern und Patienten.

Hierfür sind zwei Gründe ausschlaggebend:

  • die für Veränderungen der Beweglichkeit im Sinne von Trainingsanpassungen relevanten Parameter Intensität, Dauer, Umfang und Häufigkeit einer Dehnübung sind nicht hinreichend präzisiert und werden sowohl in experimentellen Untersuchungen als auch in der Trainingspraxis (Sport und Krankengymnastik/ Physiotherapie) unsystematisch verwendet.
  • Es ist von Seiten der Forschung bisher nicht gelungen, den Zusammenhang von mechanischer Dehnbelastung und den dadurch beanspruchten Teilstrukturen des Muskel-Sehnen-Apparates und der neuromuskulären Steuerung aufzuklären und damit eine Basis für die wissenschaftlich begründete Ableitung von Handlungsregeln für das Beweglichkeitstraining zu schaffen.
  • Ziel der Expertenrunde sollte es sein, diese Bestandsaufnahme aus unterschiedlichen Perspektiven zu konkretisieren und mögliche Forschungsperspektiven zu diskutieren.

    2. Die Statements

    2.1 Auf welcher Grundlage werden Belastungsgrößen (Dehnzeiten, Dehnintensitäten) in der physiotherapeutischen Praxis genutzt ? (Bernd HERBECK, Mannheim)

    Die Physiotherapie sieht das Problem der großen Heterogenität bezüglich der Angaben zu den Belastungsgrößen Dehnzeiten, Pausen ("Belastungsdichte" als Pause zwischen Einzel-dehnungen) und Wiederholungszahlen. Hinsichtlich der Intensität wird als Obergrenze die Schmerzschwelle angenommen, verstanden als eine Beanspruchungsgrenze, die keine negativen Rückkopplungen auslösen sollte.

    Ausschlaggebend für die Anwendung einer Dehntechnik (mit der Festlegung für die Ausprägung der einzelnen Belastungsgrößen) sollte alleine die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Funktion des Arthrons sein. Unter Anwendungsgesichtspunkten ist neben dem Zweck der Dehnung (Leistungsvorbereitung, Rehabilitation, Regeneration, Leistungssteigerung) der Zielort der Dehnung zu beachten (Faszie, Kapsel, Nerv, Gefäße). Es ist davon auszugehen, daß es einen Zusammenhang von Dehntechnik, Ausprägung der einzelnen Belastungsgrößen und zu beeinflussender Struktur gibt, ohne daß dies hinreichend empirisch geprüft und abgesichert ist.

    2.2 Zur Frage der Funktionalität von Dehnübungen für das Beweglichkeitstraining (Karl-Peter KNEBEL, Heidelberg)

    Die mit den unterschiedlichsten Methoden und Techniken erzielten Verbesserungen der Bewegungsreichweite sollten unter zwei Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden: Welche Teilstrukturen werden jeweils beansprucht (Muskulatur, Bindegewebe, neuronale Strukturen, Gelenkkapsel etc.) und zum zweiten, inwieweit berücksichtigen verwendete Übungen anatomische (Gelenkform) und funktionelle (punctum fixum und punctum mobile) Bedingungen. Beides wird in zahlreichen Untersuchungen zur Prüfung der Wirksamkeit von Dehnmethoden bzw. -techniken nicht oder zu wenig berücksichtigt. Insbesondere Befunde, die eine Überlegenheit des dynamischen Dehnens postulieren, verwenden Übungen, die unter funktionell-anatomischer Sichtweise nicht als Dehnübungen bezeichnet werden sollten.

    2.3 Kann Beweglichkeitstraining als Habituationstraining empirisch begründet werden ? (Jürgen FREIWALD, Frankfurt/M)

    Die Fragestellung des Themas impliziert eine notwendige Differenzierung in Effekte und zugrundeliegende Erklärungsansätze. Bisherige Forschung im Beweglichkeitstraining ist vorwiegend auf der Effektebene anzusiedeln. Die Befundlage zu diesen Effekten ist in der internationalen Literatur relativ übereinstimmend dargestellt (vgl. Tab. 1).

    Hinsichtlich positiver Leistungseffekte des Dehnens ist allerdings zu differenzieren zwischen Sportarten, die eine erhebliche Bewegungsreichweite erfordern, dort gibt es sicherlich solche Effekte, und z.B. Schnellkraft-Sportarten, wo solche Effekte nicht zu vermuten sind.Die Belastungsgrößen werden sowohl in der sportlichen und physiotherapeutischen Praxis als auch in experimentellen Untersuchungen sehr uneinheitlich verwendet, ihre differentielle Wirkung ist weitgehend ungeklärt. Insbesondere für experimentelle Untersuchungen ist eine Standardisierung unerläßlich.

    Tab. 1: Empirische Befunde zur Wirkung von Dehnmaßnahmen
    Neuere Untersuchungen von Huijing (nach persönlicher Mitteilung) lassen vermuten, daß weitere Strukturen im Muskel zu finden sind (bindegewebige Strukturen außerhalb der Fibrillen bei Fast-Twitch-Fasern). Es wurde deshalb die Notwendigkeit angesprochen, ein erweitertes Muskelmodell zu erstellen.

    Schmidtbleicher warf ein, daß diese Strukturen im gleichen Maße wie die kontraktilen Elemente Auf- und Abbauprozessen unterliegen. Dies scheint von besonderem Interesse für Adaptationen beim Beweglichkeitstraining.

    Es wurde die Hypothese aufgestellt, daß übungsspezifische Effekte bei Dehnung eventuell auch lageabhängig (Dehnung im Stehen, im Sitzen, im Liegen ) seien. Schmidtbleicher ergänzte, daß diese lagespezifischen Unterschiede auf unterschiedliche reflektorische Verschaltungen (inhibitorische und exhibitorische) zurückzuführen seien. Am Beispiel der Gegenüberstellung der Effektivität der postisometrischen Methode und der PNF-Methode (Dehnen durch Antagonisten-Kontraktion) wurde nochmals deutlich, daß ohne eine Berücksichtigung von Belastungsgrößen und konkreten Zielsetzungen der jeweiligen Arbeiten eine vergleichende Bewertung von Dehnmethoden nicht möglich ist. Laut Gollhofer ließ sich nach einem mehrwöchigen Dehntraining als alleiniger Effekt eine Schmerzadaptation feststellen. Schmidtbleicher erklärt die Reduktion der Schmerzempfindung beim Dehntraining durch eine mögliche Veränderung der Ia-Afferenz.
     
    3. Zusammenfassende Diskussion und Ausblick

    Die Expertenrunde erzielte weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der notwendigen eindeutigen Operationalisierung von Belastungsgrößen und der grundlagenorientierten Untersuchung von spezifischen kontrollierten Dehnbelastungen auf die jeweils beanspruchten Teilstrukturen "muskuläres System", "serienelastisches System" und "neuromuskuläre Steuerung". Eine Erweiterung des mechanischen Muskelmodells zur Betrachtung der beiden erstgenannten Teilstrukturen scheint angezeigt. Der Begriff der Belastungsgrößen bzw. Belastungsnormativa sollte dabei soweit übernommen werden, daß das methodische Vorgehen in experimentellen Untersuchungen eindeutig nachvollziehbar ist. Die Erfassung der Bewegungsreichweite bzw. des Range of Motion als alleiniger abhängiger Variablen wurde mit dem Hinweis auf die nicht differenzierbaren Einflußgrößen kritisiert, ohne daß die Bedeutung und Reichweite weiterer abhängiger Variablen (EMG, H-Reflex, Kraft etc. ) abschließend diskutiert werden konnte. Als weiteres auch für den Anwendungsbereich relevantes Problem wurde die Selektivität der in grundlagenorientierten experimentellen Untersuchungen untersuchten Stichproben, i.d.R. Sportler, benannt. Die dort gewonnenen Daten sollten nicht undifferenziert für alle Anwendungssituationen und Zielgruppen des Dehnens bzw. Beweg-lichkeitstrainings generalisiert werden.

    Das in der Diskussion skizzierte "Arbeits"-Programm könnte einen Beitrag dazu leisten, die Stretching-Diskussion zu versachlichen und praktischen Handlungsempfehlungen wenn schon keine eindeutige Erklärung, dann zumindest eine höhere Plausibilität zu verleihen.

    Die Anregung, in zwei Jahren ein 2. Expertengespräch durchzuführen und auf der Grundlage dieses Protokolls zu überprüfen, welche Fortschritte sich hinsichtlich einer eindeutigen Terminologie und deren Auswirkung auf die Interpretation experimenteller Befunde ergeben haben, wird von den Veranstaltern gerne aufgegriffen und realisiert.

    Anfragen und Rückmeldungen an die Autoren über folgende e-mail Adressen:

    Franz Marschall [email protected]

    Henning Ott [email protected]

    Stefan Schönthaler [email protected]
     
     
     
     

    Teilnehmer/innen:

    Name Institution Adresse Telefon/Fax
    Albrecht Karin   Klosbachstr. 109 - CH 8032 Zürich  
    Boekh-Behrens Wend-Uwe Institut f. Sportwiss. Universität Bayreuth Universitätsstr. 30 95440 Bayreuth 0921 - 553478
    Freiwald Jürgen, PD Dr. Orthopädische Universitätsklinik Friedrichsheim Marienburgstr. 2 60528 Frankfurt/M. 069 - 6705-329
    Gollhofer Albert, Prof. Dr. Institut für Sportwiss. Universität Stuttgart Allmandring 28 70569 Stutgart 0711 - 6853165
    Herbeck Bernd   Im Pfeifferswörth 4 68167 Mannheim 0621 - 333011
    Knebel Peter Institut f. Sport und Sportwiss. Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 700 69120 Heidelberg 06221 - 54-6443
    Marschall Franz,
    Dr.
    Sportwiss. Institut Universität des Saarl. Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken 0681 - 302 4173
    Meyer Tim, Dr. Institut f. Sport und Präventivmedizin Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken 0681 - 302 3747
    Ohlendorf Kirsten      
    Ott Henning Institut f. Sport und Präventivmedizin Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken  
    Rapp Walter Institut für Sportwiss. Universität Stuttgart Allmandring 28 70569 Stutgart 0711 - 6853165
    Schmidtbleicher Dietmar, Prof. Dr. Institut für Sportwiss. Universität Frankfurt Ginnheimer Landstr. 39 60487 Frankfurt 069 - 798 24524
    Schönthaler Stefan Institut f. Sport und Präventivmedizin Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken  
    Siewers Michael, Dr. Institut f. Sport und Sportwiss. Universität Kiel Olshausenstr. 74 24098 Kiel 0431 - 8803778
    Wiemann Klaus, Prof. Dr. GH Wuppertal, BE Sportwissenschaft Postfach 100127 42027 Wuppertal 0202 -
    4392094/2031
    Wydra Georg, Prof. Dr. Sportwiss. Institut Universität des Saarl. Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken 0681 - 302 4909